Der ÖPNV am Limit: Was kommt nach Corona und dem 9-Euro-Ticket?
Die ÖPNV-Branche steht vor sehr großen Herausforderungen: die Auswirkungen der weiter anhaltenden Corona-Pandemie, Rufe nach einem Nachfolger für das 9-Euro-Ticket, die ungeklärte Frage, ob es über das Jahr 2022 hinaus finanzielle Unterstützung seitens des Bundes und der Länder geben wird. Dem gegenüber steht das dringend notwendige Vorantreiben der Mobilitätswende. Diese wird sich nur durch massive Investitionen in Fahrzeuge, Angebot und Infrastruktur ermöglichen lassen, um die ambitionierten Ziele von einer Steigerung der Fahrgastzahlen um 60 Prozent bis zum Jahr 2030 realisieren zu können. Die immens gestiegenen Energiekosten stellen die Verkehrsunternehmen zusätzlich vor große Schwierigkeiten.
Finanzielle Belastungen erfordern zusätzliche Landes- und Bundeshilfen
„Es besteht die Gefahr einer finanziellen Kernschmelze“, brachte Michael Vogel, Geschäftsführer des Verkehrsverbunds Rhein-Sieg (VRS), die Situation bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit den anderen NRW-Verkehrsverbünden und -Tarifgemeinschaften im August auf den Punkt. Ohne substanzielle finanzielle Hilfe in Höhe von 500 bis 600 Millionen Euro müssten in NRW zum Jahreswechsel entweder die Tarife erhöht oder das Angebot reduziert werden. „Die Kommunen allein können diese Herausforderungen nicht stemmen“, betont Michael Vogel.
Die Zukunft kostet heute schon richtig viel Geld
Neben den allgemeinen Kostensteigerungen bei Energie und Personal sind es die Kosten für eine lückenlose digitale Fahrgastinformation sowie Investitionen in die moderne und barrierefreie Infrastruktur und in Fahrzeuge mit sauberen, emissionsarmen Antriebstechnologien, die es zukünftig zu kompensieren gilt. Daher hat die NRW-ÖPNV-Branche gemeinsam mit Vertretern von Kreisen und Kommunen einen deutlichen Appell an Bund und Land gerichtet, die Finanzierung des Nahverkehrs nachhaltig auszubauen und neben den erforderlichen Investitionen in Infrastruktur und Fahrzeuge auch die gestiegenen und weiter steigenden Betriebskosten sowie den Ausgleich der Corona-bedingten Einnahmeausfälle zu fördern. Der ÖPNV von (über)morgen brauche schon heute entsprechende Mittel. Andernfalls müssten die bisherigen turnusmäßigen Fahrpreissteigerungen überproportional zu den Vorjahren ausfallen oder das Angebot reduziert werden.
Bleibt der Corona-Rettungsschirm 2023 noch aufgespannt?
Während der Corona-Pandemie hatten die Verkehrsunternehmen das Angebot trotz einbrechender Fahrgastzahlen weiterhin aufrechterhalten. Bislang wurden die entstehenden Finanzlöcher durch Mittel von Bund und Ländern gestopft. Auch für 2022 stellen der Bund und das Land Nordrhein-Westfalen einen Corona-Rettungsschirm von rund einer Milliarde Euro für den NRW-ÖPNV bereit. Zudem investiert das Land weitere Gelder zur Kompensation der massiv gestiegenen Energiepreise. „Doch ob auch für 2023 Gelder fließen werden, ist völlig offen“, berichtet Michael Vogel.
9-Euro-Ticket: Erfolg mit einem hohen Preis
Mehr als 62 Millionen von Käufer*innen und Abonnent*innen genutzte Tickets bundesweit zeigen: Sehr viele Menschen sind bereit, mit Bus und Bahn zu fahren, wenn der Preis niedrig ist und das Angebot einfach zu nutzen ist. Ein Erfolg, der allerdings auf Dauer unfinanzierbar ist. Allein im VRS brachen die Einnahmen von 60 Millionen Euro im Juni 2019 auf neun Millionen Euro im Juni 2022 ein. „Zudem hat das 9-Euro-Ticket die Tarifwahrnehmung der Fahrgäste zerstört“, so Michael Vogel.
51 Millionen Euro weniger Ticketeinnahmen im Monat (VRS)
Ebenso hat das Ticket auch ein helles Licht auf mancherorts bestehende Schwachstellen des ÖPNV-Systems geworfen: zu wenig Personal, teilweise marode Infrastruktur, gerade auf dem Land ausgedünnte Fahrpläne. Michael Vogel: „Wir betonen daher ausdrücklich, dass im Falle einer Nachfolgeregelung – wie auch immer diese ausgestaltet sein würde – der Ausbau des ÖPNV keinesfalls unter den Tisch fallen darf. Ihm kommt eine zentrale Aufgabe beim Klimaschutz im Verkehrssektor zu. Doch dieser Rolle kann die Branche nur mit ausreichend finanzieller Ausstattung gerecht werden. Das System Nahverkehr wird besser werden müssen, um eine nachhaltig attraktive Alternative zum Auto darzustellen. Daher ist der konsequente und umfassende Ausbau unausweichlich. Nicht der Preis allein wird die Menschen vom dauerhaften Umstieg auf Bus und Bahn überzeugen.“
Grundsätzliche Bereitschaft für Nachfolgeregelung – wenn die Finanzierung stimmt
Der VRS steht wie die anderen Verbünde in NRW auch bereit, im Sinne der Attraktivitätssteigerung des Nahverkehrs und des Klimaschutzes eine Nachfolgeregelung des 9-Euro-Tickets umzusetzen und unterstützt die Einführung mit allen Kräften – sofern die Finanzierung geklärt ist. 29/49-Euro-Modell, 69-Euro-Modell oder 365-Euro-Jahresticket: Zu den in die Diskussion eingebrachten Vorschläge, wie eine Nachfolge des 9-Euro-Tickets aussehen kann, hat der VRS keine Präferenz, sondern wartet die politische Diskussion ab. Eine Fortführung des 9-Euro-Tickets mit geschätzten Kosten von zehn Milliarden Euro jährlich erscheint unwahrscheinlich. „Eines ist aus unserer Sicht aber völlig klar“, stellt Michael Vogel fest, „um den Modal Split-Anteil des Nahverkehrs zu verbessern, geht es eben um mehr als nur den Preis: Ziel ist ein bedarfsgerechtes und leistungsstarkes Angebot, das flächendeckend möglichst vielen Menschen einen Zugang zur Schiene und zu modernen Bussen gewährt und eine echte Alternative oder zumindest Ergänzung zum eigenen Auto darstellt. Denn nur so lassen sich die ehrgeizigen und alternativlosen Klimaziele der Politik realisieren.“
Wie ein Erreichen eben jener Klimaziele im VRS-Raum erreicht werden könnte und welche finanziellen Bedarfe hierfür zu decken wären, lässt der Verkehrsverbund Rhein-Sieg derzeit in einer Studie untersuchen. Deren Ergebnisse sollen zeitnah vorliegen und werden dann auf dieser Webseite verlinkt.